Lokalbahnhof

Nicht nur der tägliche Einstieg ins Chaos

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D 382: София – București

Juni 25th, 2011 · Keine Kommentare

'Wanderlust'Wieder auf der Fahrt, es soll die bisher längste, ununterbrochene Zugreise meines Lebens werden. 58 Stunden, 26 Minuten liegen vor mir – Freitag 20:40 Uhr bis Montag 6:06 Uhr. Ich sitze also im russischen Schlafwagen София/Sofia – Москва/Moskau auf dem Weg bis nach Bukarest. So viel Neues, Wahnsinn. Alleine mit einem der russischen Wagen zu fahren, finde ich schon extrem cool. Schwer zu sagen, warum, aber es ist wieder wie eine andere Welt, in die man einsteigt. Es fühlt sich an, als würde man auf längst vergangenen Pfaden wandern. Der Wagen ist so alt, dass die Fensterrahmen noch aus Holz gefertigt sind. Insgesamt ist es ein bisschen wie in einem liebevoll gepflegten Museum. SonnenuntergangDie Schaffnerin ist in etwa genau das, was man sich (oder ich mir bisher) unter einer russischen Schlafwagen-Schaffnerin vorgestellt hab. Eine reserviert bis unfreundlich wirkende Frau die mürrisch auf meine Fahrkarte blickt und mich einsteigen lässt. Ich sehe offensichtlich aus wie der letzte Tourist – und sie zählt an den Fingern ab, in welche Kabine ich soll – ich zähle nach: acht. „Осем?“ frage ich, hoffend, die bulgarische Zahl ist auch auf russisch verständlich. „Да!“ schallt es mir entgegen – ja.

Blick in den Gang des russischen Schlafwagens Der Wagen lässt mich irgendwie kleiner werden, obwohl ich fast nicht durch den Gang passe mit meinem großen Rucksack. Vorbei an den 1.-Klasse-Schlafabteilen die nur zwei Betten gegenüber einander haben. Das Tischchen am Fenster ist liebevoll aussehend gedeckt mit Tischdecke und Porzellantassen. Eine andere Welt. Die Gardinen in meinem Abteil – ich habe es für mich alleine – sind ganz akkurat am neben dem Fenster festgemacht. Das, was besonders auffällt ist jedoch eher: es gibt Gardinen in einem Zug auf dem Balkan….

Draußen zieht das Tal der Искър/Iskar vorbei, in den ersten Dörfern brennen die Straßenlaternen, es ist kurz nach Neun. Das Schreiben auf dem Tischchen ginge super – wäre nicht die Federung des Wagens so im Eimer. Vermutlich sind die Normalspur-Drehgestelle etwas arg verbraucht. Es knarrt und rattert, jeder Schienenstoß, jedes Klack-Klack schüttelt den ganzen Wagen durch. Ich habe etwas Angst um mein Bier und frage mich, ob die Porzellantassen in den anderen Abteilen wohl festgeklebt sind? Das Tal der Iskar – auch im Zwielicht wahnsinnig schön. Leider kann man mein Fenster nicht öffnen – der „Museumswagen“ ist klimatisiert. Im Fluss glitzern die Lichter der vorüberziehenden Stadt. Der Kollege der Schaffnerin (es sind immer zwei Schaffner pro Wagen) sagt ihr im Gang stehend den Namen des Orts durch: Своге/Svoge. Ein Kind steht im Nachbargleis und schaut uns mit großen Augen nach. Vor uns sieht man aus einer Kurve das Tal vor uns liegen. Über den Berghang verstreut stehen einzelne Laternen im Wald, die irgendwo hoch über uns eine Straße beleuchten. Plötzlich Nebel, der nur noch Schemen der Büsche und Bäume neben der Strecke erkennen lässt – er geht genauso schnell wie er gekommen ist: der Rauch eines Feuers begleitet uns nur ein paar hundert Meter. TagebuchDie Welt wirkt im Zwielicht nicht real. Die ersten Felshänge tauchen über uns auf, auf dem Grat stehen Bäume die nur schwarze Schatten auf den Himmel zeichnen. Die Lichter von Бов/Bov ziehen vorbei, der Bahnhofsvorsteher steht mit seiner Lampe am Bahnsteig und wir fahren vorbei, während ich die Dose Bier leere.

Die Toilette bietet weitere Ungewöhnlichkeiten. Es gibt Toilettenpapier, Handpapier und sogar eine Klobürste. Überflüssig zu erwähnen, dass die Toilette sehr sauber ist. Lediglich der Sinn der Jalousie vor der Milchglasscheibe will sich mir nicht recht erschließen. Schlafen dürften auf der Zugtoilette ja nur die Wenigsten. Weitere angenehme Überraschung: offensichtlich gibt es Wasser, das Becken ist nass. Also kann das übliche Ritual „erst schauen ob es Wasser gibt, dann Seife nehmen“ entfallen. Mit der Flüssigseife auf der Hand stelle ich dann fest: die Drehregler in blau und rot ändern am Wasserfluss nichts. Er bleibt konstant auf Null. Durch Zufall war ich auf Twitter vor einiger Zeit auf eine Seite über die Transsib aufmerksam geworden. Ich erinnerte mich, dass dort stand, der Mechanismus für den Wasserhahn sei gewöhnungsbedürftig. Einen Stift gelte es irgendwo reinzudrücken. Aha. Ich war zu blöd einen Wasserhahn zu benutzen! In der Hoffnung, einer der nur zwei (!) Mitreisenden oder einer der Schaffner könnten vor der Tür stehen, öffnete ich diese. Niemand. Also den Stift suchen. Ich drücke jede Niete am Hahn und irgendwann merke ich, dass sich etwas bewegen lässt. Der Stift ist das, was aussieht wie das, wo das Wasser rauskommen soll. Und er will von unten nach oben gedrückt werden – wahrlich gewöhnungsbedürftig. Aber meine Hände sind anschließend sauber. :-)

Zurück im Abteil fällt der Strom aus, die „Notbeleuchtung“ hat etwas von Kerze. Ich werde also bald mal schlafen und mache mein Bett mit der Matratze, die auf dem oberen Bett bereit liegt. Mit dem Kopf zum Fenster sehe ich nach Ausschalten der Notbeleuchtung auch direkt von meinem Bett durch das große Fenster die Sterne. Hat was! Nur zu schade, dass ich schon in 2,5 Stunden wieder kurz aufstehen muss: Grenzkontrolle…

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